W. Ort: Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

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Titel
Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau. Ein pädagogisches Experiment


Autor(en)
Ott, Werner
Herausgeber
Institut für Kulturforschung Graubünden
Erschienen
Baden 2018: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
288 S.
von
Andrea De Vincenti, Pädagogische Hochschule Zürich

Anders als der Titel zunächst vermuten lässt, behandelt die im Rahmen eines Projekts des Instituts für Kulturforschung Graubünden entstandene Studie zur «Schülerrepublik im Schloss Reichenau» des Historikers und Zschokke-Biografen Werner Ort nicht nur das 1793 eröffnete Seminar Reichenau, sondern nimmt immer wieder auch auf seine «Vorgänger» in Haldenstein, Marschlins und Jenins sowie auf die Geschichte der Reichenau, Graubündens und Europas Bezug.

Der Aufbau des Bandes ist nach einführenden Kapiteln schwach chronologisch und nimmt seinen Ausgangspunkt bei Johann Baptista von Tscharner, der «Gründerpersönlichkeit» des Seminars Reichenau. Von 1763 bis 1768 war er chüler des vom Zizerser Pfarrer Martin von Planta gemeinsam mit Johann Peter Nesemann gegründeten Seminars in Haldenstein gewesen, das 1771 wegen Platzmangel nach Marschlins verlegt worden war. Das Seminar Haldenstein habe, so Ort, Tscharners republikanisch-patriotische «Sicht auf die Welt» wesentlich geprägt (S. 48 f.). Sein «mehr von Idealismus und Optimismus als von Realismus» geprägtes Bestreben (S. 67), in Graubünden nach der Schliessung von Haldenstein / Marschlins wieder eine solche Schule aufzubauen, welche «unsere Söhne insbesondere zu Bündnern und recht eigentlich für unser Vaterland» erziehen solle, wurde zwar von der Standesversammlung begrüsst, von den Gemeinden jedoch mit dem Hinweis verworfen, man solle doch lieber die Dorfschulen verbessern (S. 51). Trotzdem gründete Tscharner die private «Nationalschule von Jenins», welche ausser von seinen eigenen Söhnen nur von wenigen weiteren Kindern besucht wurde. 1793 bot sich ihm dann die Gelegenheit, auf Schloss Reichenau eine grössere Privatschule für Knaben von ca. 10 bis 18 Jahren zu eröffnen: das Seminar Reichenau. Als Schulleiter wurde der inzwischen betagte Nesemann engagiert, der bereits in Haldenstein und Marschlins Lehrer und Schulleiter gewesen war. Die Schülerschaft – neben den Söhnen Tscharners und derjenigen seiner persönlichen oder Parteifreunde der Patrioten fanden auch etliche Söhne von ehemaligen Haldenstein-Schülern den Weg an die neue Privatschule – sollte eine «Gemeinschaft der Gleichberechtigten» (S. 64) sein, weshalb Kinder von Grossbauern, Kaufleuten oder Aristokraten laut Ort «alle gleich behandelt» und die Schulgelder niedrig gehalten worden seien (S. 67 f.).

Dass das Seminar zwischen der Gründung auf Haldenstein und der Eröffnung von Tscharners Seminar in Reichenau für einige Jahre auf das Schloss Marschlins, den Herrschaftssitz von Tscharners politischem Gegner, dem eher aristokratisch gesinnten Ulysses von Salis-Marschlins, verlegt und gemäss dessen Willen ab 1772 zunehmend auf die Lehre des deutschen Philanthropen Johann Bernhard Basedow ausgerichtet worden sei, stellt Ort als in der Person Salis-Marschlins begründete Abkehr von den ursprünglich idealistischen Zielen der Anstalt sowie auch von dem angeblich weiterhin in der pietistischen Tradition der Francke’schen Stiftungen zu Halle agierenden Nesemann dar. Diese beachtenswerte These eines starken Bruches in der Geschichte von Haldenstein / Marschlins hätte unter Einbezug der bestehenden Forschungsliteratur diskutiert und so argumentativ weiter gestärkt werden können, zumal Nesemann bis auf die letzten zwei Jahre an beiden Orten leitend und lehrend involviert blieb und etwa die den Halleschen Gepflogenheiten entgegenlaufende Schülerrepublik bereits in Haldenstein pflegte.1

In der Schülerrepublik erkennt der Autor trotz ihrer stetigen Veränderungen denn auch ein Moment der Kontinuität zwischen den verschiedenen Anstalten. In Haldenstein befasste sie sich unter Teilnahme der Lehrpersonen zunächst vorwiegend mit Disziplinarfragen (S. 156), wurde später jedoch zu einer öffentlichen Form der Schülerselbstverwaltung, auf deren wöchentlichen Zusammentreffen Modifikationen und Übertretungen der selbstverordneten Regeln sowie auch Rechtsfälle und Dilemmata berühmter Männer verhandelt und so auch das öffentliche Reden eingeübt wurde (S. 162 f.; 172 f.). Zuletzt wurde die Schülerrepublik unter dem Magdeburger Heinrich Zschokke zu einem «pädagogischen Tribunal» und «Sittengericht» umgestaltet. Letzteres stellte gegenüber Haldenstein eine Reichenauer Neuerung dar und beurteilte die einzelnen Schüler nach Charakter und Entwicklung. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und auch des jeweils verhandelten Schülers sollte nicht nur das Fehlerhafte, sondern auch das Gute im Menschen zum Thema gemacht und so die Sittlichkeit gefördert werden (S. 190; 198 f.). Angesichts der unterschiedlichen Ausprägungen dieser für die Zeit ungewöhnlichen Schulpraktik hätte die Studie hier gerne etwas analytischer werden dürfen, um beispielsweise die Frage zu klären, welchen Stellenwert das «pädagogische Experiment» der Schülerrepublik im jeweiligen Gesamtsetting der Schule hatte. Schülermitschriften von Lektionen deuten eher auf klassischen Frontalunterricht auf teilweise universitärem Niveau hin als auf die in der Programmatik des Seminars betonten spielerischen und kindgerechten Lehr- und Lernmethoden (S. 149; S. 167). Eine eingehendere Diskussion solcher in der Studie immer wieder angedeuteter Spannungsfelder wäre trotz der zu Recht vom Autor erwähnten Quellenknappheit ganz allgemein wünschenswert gewesen. So hätte man beispielsweise gerne mehr darüber erfahren, was die Akteure im Seminar unter «Bürgersinn» und «Bürgertugenden» verstanden, die in Reichenau speziell gefördert werden sollten, und in welchem Verhältnis diese – gerade angesichts der internationalen Schülerschaft – zum Begriff der Nation in dem von Tscharner angestrebten «nationale[n] Erziehungsprogramm» (S. 106) standen.

Eine Herausforderung für das Seminar stellten auch die politischen Wirren der Zeit dar, wie der Erste Koalitionskrieg, die jakobinische Schreckensherrschaft in Frankreich und die damit verwobenen politischen Verwerfungen im Bündnerland, in deren Folge das Seminar Reichenau im Februar 1794 ein erstes Mal geschlossen wurde, um aber im Sommer darauf mit neuen Lehrern und Schülern bereits wieder zu eröffnen. Unter den neuen Lehrpersonen war auch Zschokke, der umgehend auf eine verbesserte Werbung drängte und dem Seminar eine blühende Zukunft versprach. Als er 1797 schliesslich selbst die Direktion übernahm, geriet das Seminar allerdings rasch erneut in finanzielle Schwierigkeiten und musste im Frühjahr 1798 endgültig geschlossen werden.

Werner Orts Darstellung des ungefähr fünfjährigen Bestehens des Seminars Reichenau zeugt von einer ausgezeichneten Kenntnis der herangezogenen Quellen und der zeitgenössischen Politikgeschichte der Reichenau, Graubündens und Europas. Beides verbindet der Autor immer wieder geschickt miteinander, worin eine grosse Stärke seiner Studie liegt. Die an einzelnen Protagonisten wie Tscharner, Nesemann und Zschokke ausgerichtete Erzählung sowie das zeitliche Vor- und Zurückspringen zwischen Vorgängerinstitutionen und dem Seminar Reichenau erschweren es teilweise etwas, die chronologische Entwicklung des Seminars im Blick zu behalten. Eine konkrete, auf das Seminar Reichenau bezogene Fragestellung und ein intensiverer Einbezug der einschlägigen Forschungsliteratur hätten den Erzähl- und Argumentationsfaden gestärkt und die Lektüre erleichtert. Dennoch ist dem Autor mit der vorliegenden Studie eine quellengesättigte und kenntnisreiche Darstellung des Seminars Reichenau, seiner Vorgängerinstitutionen sowie auch der prägenden Persönlichkeiten im politikgeschichtlichen Kontext der Zeit gelungen.

1 Siehe z. B. Anne Bosche, Loose coupling als konstitutives Element der Organisation von Schule: Das Fallbeispiel Haldenstein-Marschlins in der Schweiz des 18. Jahrhunderts, in: Michael Göhlich, Caroline Hopf, Daniel Tröhler (Hg.), Persistenz und Verschwinden. Pädagogische Organisationen im historischen Kontext, Wiesbaden 2008, S. 69–81; Martin Schmid, Das Seminar Reichenau, in: Bündner Jahrbuch. Zeitschrift für Kunst, Kultur und Geschichte Graubündens 3 (1961), S. 79–84; Daniel Tröhler, Republikanismus als Erziehungsprogramm: Die Rolle von Geschichte und Freundschaft in den Konzepten eidgenössischer Bürgerbildung der Helvetischen Gesellschaft, in: Michael Böhler et al. (Hg.), Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers, Genf 2000, S. 401–421.

Zitierweise:
Sabina Roth: Werner Ort: Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau. Ein pädagogisches Experiment, hg. vom Institut für Kulturforschung Graubünden, Baden: Hier + Jetzt, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 464-466

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 464-466

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